Ethio Jazz
Musikgenre,  Jazz

Ethio-Jazz: Der Sound Äthiopiens zwischen Tradition und Moderne

Die Geschichte des Ethio-Jazz
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Ethio-Jazz: Die Fusion von Tradition und Moderne aus Äthiopien

Ethio-Jazz ist ein Musikgenre, das weit über die Grenzen Afrikas hinaus Faszination weckt. Diese besondere Mischung aus traditionell äthiopischer Musik, Jazz, Funk, Soul und Einflüssen aus der westlichen Popkultur entstand Ende der 1950er-Jahre in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba und entwickelte sich zu einem eigenen musikalischen Universum. Mal melancholisch, mal groovend, oft hypnotisch – Ethio-Jazz berührt durch seine Tiefe und gleichzeitig durch seine tänzerische Leichtigkeit.

Geschichte

Die Anfänge in den 1950er- und 1960er-Jahren

Die Anfänge des Ethio-Jazz liegen in der Begegnung zweier Welten: westlicher Jazz mit seinen Zwölfton-Skalen und äthiopische Musiktradition auf pentatonischen Skalen. Erste Impulse kamen durch Orchester und Bläserensembles, die ab den 1940er-Jahren im Land eingeführt wurden.

Musiker wie Nersès Nalbandian prägten entscheidend die Entwicklung moderner äthiopischer Musik. Anfang der 1960er-Jahre begannen junge Künstler in den Bars und Hotels von Addis Abeba, Jazz mit lokalem Musikstilen zu verbinden.

Das goldene Zeitalter (1960er–1974)

Addis Abeba erlebte in dieser Zeit eine kulturelle Explosion. Clubs, Hotels und Tanzsäle waren voller Musik, und Bands wie das Police Orchestra, die Garde Impériale oder die Ras Hotel Band traten regelmäßig auf.

Eine zentrale Rolle spielte dabei Amha Eshèté (1941–2021). Er gilt als Pionier der äthiopischen Musikindustrie und Gründer des unabhängigen Labels Amha Records. In einer Zeit, in der staatliche Kontrolle und Zensur die Veröffentlichung von Musik erschwerten, wagte er es, auf eigene Faust die größten Musiker des Landes aufzunehmen und zu produzieren – oft gegen den Widerstand der Behörden.

Zwischen 1969 und 1975 veröffentlichte er rund 120 Singles und 12 Alben, die heute das Herzstück des „Goldenen Zeitalters“ des Ethio-Jazz bilden.

Dank seines Muts und seiner unternehmerischen Vision konnten Künstler wie Mulatu Astatke, Mahmoud Ahmed oder Alemayehu Eshete ihre Musik aufnehmen und verbreiten. Ohne Amha Eshèté wäre ein Großteil dieser musikalischen Schätze womöglich nie dokumentiert worden.

Sein Label verschaffte der Szene nicht nur eine Stimme, sondern legte auch den Grundstein dafür, dass Ethio-Jazz Jahrzehnte später durch die Éthiopiques-Serie weltweit wiederentdeckt werden konnte.

Ethio Jazz
Alèmayèhu Eshèté live 2010 / Foto: © Thomas Bresson, Lizenz: CC BY 3.0
Der Bruch mit der Diktatur (1974–1991)

Der Sturz von Kaiser Haile Selassie und die Machtübernahme durch das Derg-Regime führten zu einem drastischen Einschnitt. Ausgangssperren, Zensur und Kontrolle durch die Militärregierung ließen die Musikszene fast erstarren. Viele Orchester wurden aufgelöst, kreative Freiheit war kaum möglich. Dennoch hielten Musiker die Tradition am Leben, indem sie in versteckten Clubs spielten oder ihre Kritik in poetischen Texten verschlüsselten.

Beispiele aus dieser Zeit sind etwa „Tezeta“ von Mulatu Astatke – ein melancholisches Stück, das als Inbegriff der äthiopischen Sehnsucht gilt. Auch Mahmoud Ahmed veröffentlichte trotz widriger Umstände Alben wie Ére Mela Mela (1975), dessen Songs zwischen subtiler Kritik und spiritueller Hoffnung schwanken. Tilahun Gessesse, die „Goldene Stimme Äthiopiens“, sang weiterhin – oft in verschlüsselten Texten, die den Alltag und die Unterdrückung widerspiegelten. Selbst heimlich zirkulierende Kassetten wurden zu einem wichtigen Medium, um Musik und damit auch ein Stück kulturelle Identität lebendig zu halten.

Internationale Wiederentdeckung in den 1990er-Jahren

Nach dem Ende der Diktatur begann auch international ein neues Kapitel. Der französische Musikologe Francis Falceto veröffentlichte ab 1997 die legendäre Compilation-Serie Éthiopiques auf dem Label Buda Musique. Ausgangspunkt war ein Konzert von Mahmoud Ahmed in Paris in den 1980er Jahren, das Falceto auf die reiche Musiktradition Äthiopiens aufmerksam machte. Fasziniert von den Aufnahmen der 1960er- und 70er-Jahre suchte er den Kontakt zu Amha Eshèté, dem Gründer von Amha Records, und begann, alte Vinylplatten zu sammeln und zu restaurieren.

Die mühsam zusammengetragenen Aufnahmen wurden digitalisiert und in hochwertiger Form neu veröffentlicht. Jede Ausgabe der Éthiopiques-Reihe enthielt nicht nur remasterte Tracks, sondern auch ausführliche Booklets mit Hintergrundinformationen über Musiker, politische Umstände und die Geschichte des Ethio-Jazz. So entstand eine Art musikalisches Archiv, das die einst beinahe verlorene Szene wieder ins Bewusstsein rückte.

Die Wirkung war enorm: Westliche Künstler wie Jim Jarmusch nutzten Songs der Serie in Filmen (z. B. Broken Flowers, 2005 mit Mulatu Astatkes „Yèkèrmo Sèw“), und Bands wie The Ex oder Either/Orchestra begannen, mit äthiopischen Musikern zu kollaborieren. Damit wurde der Éthio-Jazz nicht nur gerettet, sondern auch Teil der globalen Musikwelt.

Globalisierung und neue Generation (2000er bis heute)

Mit der Jahrtausendwende erlebte Ethio-Jazz eine neue Popularität – nicht nur in Äthiopien, sondern auch auf internationalen Bühnen. Der bereits erwähnte Film Broken Flowers trug entscheidend dazu bei, Mulatu Astatke und seine Musik einem neuen Publikum zu präsentieren.

Heute interpretieren Bands und Künstler aus Europa, den USA und Äthiopien das Genre auf ihre Weise. Projekte wie Either/Orchestra (USA), Imperial Tiger Orchestra (Schweiz) oder Akalé Wubé (Frankreich) führen die Tradition fort und entwickeln den Sound mit modernen Elementen weiter.

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Arat Kilo aus Frankreich, Foto: © Pierrick Guidou

Auch in jüngerer Zeit hat sich eine lebendige Szene gebildet: Die Pariser Band Arat Kilo verbindet Ethio-Jazz mit Funk und Hip-Hop und arbeitet regelmäßig mit Sängerinnen wie Mamani Keïta zusammen.

In Belgien sorgt die Formation Azmari für frischen Wind, indem sie traditionelle äthiopische Klänge mit Jazz, Psychedelic und moderner Club-Ästhetik mischt. Diese neuen Projekte zeigen, dass Éthio-Jazz heute nicht nur ein nostalgisches Genre ist, sondern eine dynamische, globale Bewegung, die sich ständig weiterentwickelt.

Varianten des Ethio-Jazz

Ethio-Jazz lässt sich nicht auf eine einzige Stilistik festlegen. Manche Kompositionen sind geprägt von Funk- und Soul-Einflüssen, andere greifen lateinamerikanische Rhythmen auf. Wieder andere verkörpern die typisch äthiopische Melancholie, getragen von markanten Bläsern und hypnotisch-repetitiven Grooves.

Ein Beispiel dafür ist Arat Kilo, die mit der Sängerin Mamani Keïta traditionelle afrikanische Gesangselemente aus Mali einbindet und so Éthio-Jazz mit modernen Arrangements und einem internationalen Sound verschmelzen lässt. Genau diese Bandbreite macht das Genre so wandelbar – und zugleich sofort erkennbar.

Bedeutende Musiker

  • Mulatu Astatke – Begründer und international bekanntester Vertreter.

  • Getatchew Mekurya – Saxophonist, dessen energiegeladene Improvisationen legendär sind.

  • Mahmoud Ahmed – Sänger, dessen Album Erè Mèla Mèla als Meilenstein gilt.

  • Alemayehu Eshete, Tilahun Gessesse und Bizunesh Bekele – prägende Stimmen des goldenen Zeitalters.

  • Moderne Vertreter wie Teddy Afro, Aster Aweke oder internationale Kollaborationen (z. B. mit Akalé Wubé) zeigen, dass Éthio-Jazz lebt und sich weiterentwickelt.

Mulatu Astatke
Mulatu Astatke, Foto: © Jan Prunk / Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0

Wichtige Alben des Ethio-Jazz

  • Erè Mèla Mèla (Mahmoud Ahmed, 1975)

  • Éthiopiques Vol. 4: Ethio Jazz & Musique Instrumentale 1969–1974 (Mulatu Astatke, Buda Musique)

  • Tezeta (verschiedene Künstler, Éthiopiques-Serie)

  • Mulatu Steps Ahead (Mulatu Astatke, 2010) als Beispiel für die moderne Weiterentwicklung.

  • Mulatu of Ethiopia (Mulatu Astatke, 1972) Dieses Album gilt als Meilenstein des Genres und fusioniert traditionelle äthiopische Melodien mit westlichem Jazz und afro-kubanischen Rhythmen.

Typische Instrumente

Neben klassischen Jazzinstrumenten wie Saxophon, Trompete, Bass und Schlagzeug sind äthiopische Volksinstrumente prägend:

  • Krar – eine sechssaitige Lyra

  • Masenqo – eine einsaitige Fiedel

  • Washint – eine Bambusflöte

Kombiniert mit Hammond-Orgeln, E-Gitarren und Percussions entsteht der charakteristische, manchmal mystische Klang des Ethio-Jazz.

Von Addis Abeba in die Welt: Die Reise des Ethio-Jazz

Ethio-Jazz ist ein Genre, das Brücken baut: zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Afrika und der Welt. Seine Geschichte zeigt, wie Musik selbst unter schwierigsten politischen Umständen überlebt und sich weiterentwickelt. Heute begeistert Ethio-Jazz durch hypnotische Grooves, tiefe Emotionen und eine kulturelle Vielfalt, die ihren Ursprung in Äthiopien hat, aber längst globale Dimensionen erreicht hat.

Die Food'n'bass Playlist:

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